Warum wir die moderne Landwirtschaft nicht schätzen, sie aber schätzen sollten – von Andreas von Tiedemann, Professor für Pflanzenpathologie und Pflanzenschutz an der Universität Göttingen.
Die Sorgen um den Wirtschaftsstandort Deutschland angesichts von Technologiefeindlichkeit betreffen nicht nur die Industrie, sondern in besonderem Maße auch die Landwirtschaft. Mehr noch als die industrielle Produktion hat die Landwirtschaft mit ihrer Aufgabe der Ernährungssicherung eine unmittelbare Funktion in der Sicherstellung unserer essentiellen Lebensgrundlagen. Deshalb erscheint es so unverständlich, wie eine Gesellschaft gerade diejenigen Technologien so kritisch sieht, ja ablehnt, die zu dem in der Geschichte der Menschheit bislang einmaligen Grad an Ernährungssicherheit geführt haben, den wir alle heute genießen.
Der Grund hierfür liegt prekärerweise im Erfolg der modernen Landwirtschaft selbst. Die Einführung moderner Methoden der Pflanzenproduktion, die in Europa und anderswo in den letzten fünf Jahrzehnten zur Vermehrfachung der Erträge in den wichtigsten Nahrungskulturen wie Mais, Reis und Weizen geführt haben und der entscheidende Grund dafür ist, dass in diesem Zeitraum der Pflug mit dem Storch Schritt halten konnte (siehe Tabelle), hat das Thema Nahrungsmittelknappheit in den entwickelten Ländern völlig aus dem Bewusstsein verdrängt. Der ungeheure Fortschritt in der Landwirtschaft durch Einführung besserer Anbautechnologien wird kurioserweise gerade durch den daraus resultierenden Erfolg mit der Ignoranz der davon Begünstigten bestraft. Die moderne Landwirtshaft hat – zumindest für den entwickelten Teil der Menschheit – ein solches Maß an Versorgungssicherheit mit Nahrungsmitteln erreicht, dass dieser nicht mehr als außerordentliche Leistung sondern als Selbstverständlichkeit wahrgenommen wird. Die dramatische Folge für die Landwirtschaft ist, dass der Zusammenhang dieser komfortablen Wohlfahrtssituation mit den dafür notwendigen modernen Landbautechniken nicht mehr hergestellt wird. So kurios das klingt, eine weniger erfolgreiche Landwirtschaft, die immer wieder Knappheiten in der Versorgung herbeiführen würde, würde sich einer weitaus höheren Anerkennung erfreuen und müsste sich als Technologie nicht für Ihren Erfolg rechtfertigen.
Tabelle: Globaler Produktionszuwachs in der Getreideproduktion, Entwicklung von Bevölkerung und Anbauflächen, 1960–2012
Jahr | Bevölkerung (in Mio) | Anbaufläche (in Mio ha) | Produktion (in Mio t) |
1960 | 3.02 | 651 | 977 |
2012 | 7.06 | 691 | 2.241 |
Das mangelnde Bewusstsein für den eigentlichen Ursprung unseres Ernährungswohlstands ist auch ein mangelhaftes Geschichtsverständnis. Dies braucht nicht zu verwundern, wenn man das in Schulbüchern transportierte Bild einer verklärten archaischen Landwirtschaft betrachtet, die mit zwar primitiven aber vermeintlich naturverträglichen Methoden wirtschaftet. In welcher Weise diese ‚Naturverträglichkeit‘ mit Jahrhunderte währender Knappheit in der Ernährung und zyklischen Hungerperioden einher ging wird ebenso ausgeblendet wie die Tatsache, dass die Menschen jener Zeit diese Form von Landwirtschaft alles andere als bewusst gewählt haben. Ausgeblendet wird auch, dass die archaische Landwirtschaft, selbst nach Einführung der Vierfelderwirtschaft, zur Mitte des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf die Ertragsfähigkeit der Böden an Grenzen gestoßen ist, die eine weitere Entwicklung der Bevölkerungszahlen und damit die Entwicklung der modernen Gesellschaften von heute ausgeschlossen hätte. Erst bahnbrechende Neuerungen wie die Einführung der mineralischen Düngung, wesentlich ermöglicht durch das Haber-Bosch-Verfahren zur Stickstoffgewinnung aus Luft, sowie die beginnende systematische Pflanzenzüchtung haben die Produktivität aus der Stagnation herausgeführt und die entscheidende Wende zur modernen Produktivlandwirtschaft eingeleitet. Und erst diese hat die Industrialisierung möglich gemacht, nicht nur durch die höhere Nahrungsmittelproduktion, sondern vor allem durch die Freisetzung von Arbeitskräften aus der effizienter werdenden landwirtschaftlichen Produktion für die Arbeit in der Industrie.
Wenn der Begriff ‚Errungenschaft‘ als Ausdruck von Fortschritt, an dem alle teilhaben, berechtigt ist, dann in Bezug auf diese nach 10.000 Jahren subsistenter Produktion erreichte Wende in der Landwirtschaft. Mitnichten werden diese grundlegenden Zusammenhänge in den Schulen vermittelt. Noch weniger allerdings in den Medien, die konstant, unisono und ausschließlich die vermeintliche Naturzerstörung und Gesundheitsgefährdung beschwören, die von modernen Landbaumethoden ausgehen sollen. So sehr dies mit den Tatsachen in keiner Übereinstimmung steht, so sehr ist es doch mit der zunehmenden Entfernung des größten Teils der Bürger von der realen aktuellen Landwirtschaft und ihren Grundlagen zu erklären. Aus diesen in gesicherter Existenz und urbaner Umgebung lebenden Menschen rekrutieren sich auch die Lehrer und Journalisten, die über Landwirtschaft berichten und ihre Botschaften werden von einer ebenso entrückten und damit empfangsbreiten urbanen Bevölkerung weitgehend kritiklos aufgenommen. So hat sich ein Teufelskreis der Meinungsbildung bei uns etabliert, der in weitgehender Unkenntnis der Tatsachen und Zusammenhänge dem Sägen an dem Ast auf dem wir sitzen bedenkenlos Vorschub leistet.
Beispiele hierfür lassen sich zahlreich benennen. Hierzu gehört die überzogene Forderung nach Biodiversität auf Flächen, die Produktionsflächen sind und deren Produktivität gerade auf einer Kontrolle der Biodiversität zum Wohle der Nutzpflanzen beruht, ebenso die unsägliche Ablehnung der mildesten aller Züchtungsmethoden, der Gentechnik, oder schließlich die Diskreditierung des modernen Pflanzenschutzes. Für den Pflanzenschutz gilt die Geschichtsvergessenheit in besonderem Maße. Ein nicht unbeträchtlicher Anteil der Missernten früherer Zeitalter ist auf Schädlinge und Krankheiten zurückzuführen, denen der Mensch bis 1885 machtlos gegenüber stand. Nicht selten entschieden Schadinsekten und Schadpilze über Leben oder Hungertod von Tausenden von Menschen. Pierre Millardet von der Universität Bordeaux war es, der mit der Entdeckung und Einführung des ersten Pflanzenschutzmittels, der kupferhaltigen ‚Bordeaux-Brühe‘, seit 1885 den europäischen Weinbau vor der Vernichtung durch den aus Amerika eingeschleppten Mehltau bewahrte und eine weitere wichtige Wende hin zur modernen Landwirtschaft einleitete.
Wie andere Technologien auch, haben Pflanzenschutzmitteln heute ein zuvor nicht für möglich gehaltenes Maß an Wirksamkeit und Spezifität bei bemerkenswert geringen toxikologischen und ökotoxikologischen Risiken erreicht. Diese Fortschritte sind ohne Frage den zunehmend strenger gewordenen Zulassungsanforderungen zuzuschreiben, die wiederum von einer Politik getrieben wurden, die auf Bedenken von Verbrauchern rekurriert hat. Sosehr dieser Mechanismus zur Entwicklung einer heute de facto risikofreien Pflanzenschutztechnologie beigetagen hat, werden diese Errungenschaften von denen die sie mit ihren Bedenken ausgelöst haben, gar nicht wahrgenommen. So kommt es, dass auch hier wieder das Ausbleiben von Missernten durch die moderne Schaderregerkontrolle zur Selbstverständlichkeit geworden ist und die dazu notwendigen Technologien bedenkenlos zur Disposition gestellt werden.
Ein Spiegelbild dieser Haltungen ist die Medienberichterstattung über Pflanzenschutz, die sich permanent und ausschließlich mit dessen vermeintlichen Risiken und gar nicht mit seinem Nutzen beschäftigt. Zu den Risiken wird hierbei in jüngster Zeit ein besonders sensibler Aspekt beleuchtet, nämlich die Verbrauchergefährdung durch Pflanzenschutzmittelrückstände in Grundwasser und Lebensmitteln. Moderne Analytik lässt stoffliche Spuren im Nanogrammbereich erkennen. Und da genau beginnt das Problem, denn das Vorhandensein von molekularen Rückständen bedeutet natürlich noch lange nicht eine Gefährdung der Verbraucher. Auch die Überschreitung gesetzlicher Grenzwerte, die regelmäßig zu panikauslösenden Berichten führen, ist keineswegs mit der Gefährdung von Menschen gleich zu setzen. Eine seriöse Berichterstattung müsste dem Verbraucher erklären, dass zum Beispiel die Grundwassergrenzwerte keine toxikologisch begründeten, sondern rein gesetzlich festgelegte Grenzwerte sind. Die Werte im Trinkwasser sind bereits 1986 in der damals heftig diskutierten Trinkwassernovelle festgelegt worden und nach dem damaligen Stand der Analytik waren sie als Quasi-Nullwerte gedacht. Das bedeutet, dass deren Ausschöpfung oder gar Überschreitung noch längst keine Gefährdung darstellt, da die toxikologisch relevanten Grenzwerte um Zehnerpotenzen darüber liegen. Diese eigentlich kritischen Werte werden aber nicht annähernd erreicht. Eine seriöse Berichterstattung müsste also immer danach fragen, ob denn überhaupt toxikologisch relevante Werte erreicht oder überschritten wurden und sie dürfte sich nicht allein auf gesetzliche Grenzwerte oder das bloße Vorhandensein von Substanzfunden beziehen.
Ein gutes Beispiel dafür ist die unlängst im Auftrag des niedersächsischen Umweltministeriums durchgeführte Analyse von Grundwasserproben in Niedersachsen. Gerade sie hat gezeigt, dass das bestehende System aus Grenzwerten und Anwendungsbeschränkungen ganz offensichtlich hervorragend funktioniert. Immerhin war bei keiner der 1.180 Meßstellen eine Überschreitung des extrem strengen Trinkwassergrenzwerts von 0,1 µg/l in der für die Trinkwassergewinnung relevanten Fördertiefe von mehr als 40 m feststellbar. Das ist ein sehr beruhigendes Ergebnis, zumal in einer landwirtschaftlich intensiv genutzten Region, denn es bedeutet, dass es durch Pflanzenschutzmittelrückstände im Grundwasser derzeit keinerlei Gefährdung der Verbraucher gibt. Was die Medien daraus gemacht haben, war genau das Gegenteil. Wieder einmal reichte das bloße Vorhandensein von Rückständen für Forderungen nach noch weitergehenden Anwendungsbeschränkungen und wieder einmal wurde die entscheidende toxikologische Bewertung schlicht unterlassen. Genau da liegt der Unterschied zwischen seriöser Berichterstattung und einer solchen, der es offenbar nur auf den medialen Effekt ankommt. Mit Verbraucheraufklärung hat das nichts zu tun.
Der absurden Suggestion, Verbraucher würden sich durch Verzehr konventioneller Lebensmittel vergiften, liegen keinerlei bestätigte Fakten oder wissenschaftliche Befunde zugrunde. So verzeichnen Giftzentralen seit mehr als zwei Jahrzehnten keinerlei Vergiftungsfälle mit Pflanzenschutzmitteln mehr. Das liegt nicht zuletzt daran, dass über 95% der derzeit zugelassenen Wirkstoffe keiner Giftklasse mehr angehören. Wirkstoffe mit Warmblütertoxizität werden nicht mehr zugelassen, die wenigen derartigen Altwirkstoffe spielen in der Praxis keine Rolle mehr und werden bald ganz verschwinden. Pflanzenschutzmittel sind die am besten geprüften und sichersten Substanzen, mit denen wir umgehen. Die Prüfungen gehen weit über die reine Toxizität hinaus und umfassen einen umfangreichen Katalog jeglicher möglicher Gesundheitsbeeinträchtigungen, wie Kanzerogenität, Mutagenität, Reproduktionstoxizität, Neurotoxizität und Teratogenität, die in Kurz- und Langzeitstudien geprüft werden.
Diese strenge Zulassung scheint zu wirken: Es fehlen jegliche klinischen Befunde von Erkrankungen oder Vergiftungen durch den Verzehr von Lebensmitteln, die aus moderner landwirtschaftlicher Produktion stammen. Die zahlreichen Opfer, die es nach den Vorhaltungen der Medienberichte geben müsste, existieren nicht. In Wahrheit steigt die Lebenserwartung gerade dort, wo und seitdem es modernen Pflanzenschutz und eine sichere Nahrungsmittelproduktion gibt. Hierzu hat die moderne Landwirtschaft neben dem medizinischen Fortschritt entscheidend beigetragen. Zu keinem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte hat es so reichhaltige und hochwertige Lebensmittel gegeben wie heute, zugleich ist man diesen aber nie zuvor so skeptisch begegnet. Was das Verhältnis von Nutzen zu Risiko angeht, kann es der Pflanzenschutz heute mit jeder anderen von uns genutzten Technologie locker aufnehmen.
Diese eklatanten Widersprüche aufzulösen ist eine große Aufgabe, an der sich vor allem unabhängige Wissenschaftler, aber auch seriöse Fachjournalisten und öffentliche Bildungsträger beteiligen müssen. Es geht um nichts weniger als eine wesentliche Grundlage unserer Zivilisation und zugleich um ein Grundrecht, nämlich das auf gesicherte Ernährung für alle. Allein die Wiedererlangung der Fähigkeit einer sachgemäßen Bewertung von Nutzen und Risiko kann eine Gesellschaft zukunftsfähig machen.
Fachgebiet für Pflanzenpathologie und Pflanzenschutz an der Universität Göttingen