Baumwolle und Pestizide

In diesem Artikel erläutert Autor und Wissenschaftsredakteur Lars Fischer den Nutzen und Risiken des Pestizideinsatzes in der Landwirtschaft. Schädlingsbekämpfung ist ein Thema, das auch im Zusammenhang mit dem Baumwollanbau immer wieder diskutiert wird.


Geht Landwirtschaft auch ohne Pestizide?

Pestizide stehen in der Kritik: Die Agrarchemikalien seien giftig, umweltschädlich und vor allem in vielen Fällen unnötig. Was hat es mit den Stoffen wirklich auf sich?

Unter dem breiten Sammelbegriff Pestizide versteht man natürliche oder künstliche Stoffe, die unerwünschte Organismen in der Umwelt abtöten. Darunter fallen zum Beispiel Holzschutzmittel, die Fäulnis verhindern, und Desinfektionsmittel im Krankenhaus. Aber auch gegen Parasiten wie Läuse oder Milben kommen spezielle Pestizide zum Einsatz. Antibiotika sind streng genommen ebenso Pestizide wie Wirkstoffe gegen Malaria und andere Parasiten – man bezeichnet sie jedoch nur selten so.

Was sind Pestizide?

Über Millionen Jahre hinweg haben Pflanzen gelernt, sich mit giftigen Chemikalien vor Insekten und anderen Schädlingen zu schützen. Stoffe wie Nikotin und Koffein gehören in diese Kategorie, genau wie die in der biologischen Gartenwirtschaft beliebten Pyrethrine aus Chrysanthemen. Walnussbäume bilden in ihren Blättern ein Herbizid, das am Boden andere Pflanzen am Wachsen hindert. Eine ähnliche Funktion hat vermutlich das vom Einjährigen Beifuß produzierte Artemisinin, das als Malariamittel Karriere machte.

Wenn man landläufig über Pestizide spricht, meint man meistens eine ganz spezifische Anwendungsform: Pflanzenschutzmittel in der Landwirtschaft. Über 280 Wirkstoffe für den Pflanzenschutz sind in Deutschland zugelassen. Die Palette reicht von Rapsöl bis zu den teils sehr giftigen Organophosphaten. Noch größer als die Zahl der Wirkstoffe ist die Bandbreite der Zubereitungen – und gerade Letztere sind, was ihre Sicherheit angeht, oft nur schlecht untersucht.

Schon in der Antike war bekannt, dass Arsen auch gegen Schädlinge wirkte, Schwefel kam wohl gegen Pilze zum Einsatz. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts begann man, anorganische Salze von Schwermetallen wie Blei und Kupfer, später auch Quecksilber im industriellen Maßstab für den Pflanzenschutz herzustellen.

Die Ära der modernen Pflanzenschutzmittel begann jedoch in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts mit den Organochlor-Insektiziden, darunter DDT und Lindan. Sie waren einfach und billig herzustellen, wirkten gegen eine große Bandbreite von Schadinsekten und wurden vom Regen nicht von den Pflanzen gewaschen. In vielen Teilen der Welt erhöhten sie die Erträge drastisch und verbreiteten sich sehr schnell. Allerdings stellte sich bald heraus, dass diese Stoffe sich in der Umwelt kaum zersetzten und in der Nahrungskette anreicherten.

Reife Baumwolle in den USA

Welche wichtigen Unterschiede gibt es?

Nachfolgende Insektizidklassen wie die Organophosphate sind deswegen leichter biologisch abbaubar und in Wasser löslich – und vor allem viel, viel wirksamer: Während man von Organochloriden bei jeder Sprühaktion bis zu zwei Kilogramm pro Hektar ausbrachte, ist diese Menge heute zum Teil auf unter 100 Gramm pro Anwendung und Hektar gefallen. Organophosphate entstammen der gleichen Substanzklasse wie die Nervengase Sarin und VX – entsprechend giftig sind sie. Allerdings sind moderne Insektizide im Gegensatz zu Stoffen wie DDT meist gut abbaubar.

Herbizide, die gegen unerwünschte Pflanzen wirken, sind ebenfalls weit verbreitet. Die ältesten sind die synthetischen Auxine, zum Beispiel das Herbizid 2,4-Dichlorphenoxyessigsäure (2,4-D), das seit 1945 auf dem Markt ist. Sie wirken wie eine Klasse von pflanzlichen Wachstumshormonen und töten die Pflanze, indem sie unkontrolliertes Wachstum auslösen. Andere bekannte Herbizide wie Atrazin und Paraquat greifen in die Fotosynthese ein, Stoffe wie Glyphosat dagegen in Stoffwechselwege, die Aminosäuren und andere Biomoleküle aufbauen.

Daneben gibt es eine ganze Reihe weiterer Stoffe, die die Erträge von Feldfrüchten erhöhen, so zum Beispiel Fungizide, Beizmittel zur Saatgutbehandlung oder Mittel zum Wundverschluss bei Bäumen. Herbizide und Insektizide sind jedoch die bedeutendsten Wirkstoffgruppen. In Deutschland werden pro Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche im Jahr etwa 2,5 Kilogramm Pestizide ausgebracht.

Warum braucht man Pestizide?

Das Dilemma der Landwirtschaft kann man folgendermaßen zusammenfassen: Man schafft auf möglichst kleinem Raum möglichst gute Bedingungen für eine bestimmte Pflanze, damit dort möglichst viel reichhaltige Nahrung für Menschen – oder unsere Tiere – wächst. Es bleibt nicht aus, dass sowohl die guten Wachstumsbedingungen des Ackers als auch die große Menge nahrhafter Pflanzen für andere Lebewesen vor allem eins sind: ein reich gedeckter Tisch. Dass sich dort bald ungebetene Gäste einfinden, liegt in der Natur der Sache: Je besser der Ertrag, umso mehr Schädlinge zieht der Acker an.

Pflanzenschutzmittel verringern dieses Problem erheblich, ob es nun um Wildpflanzen geht, die mit den Feldfrüchten konkurrieren, oder um Tiere, die sich an der Ernte gütlich tun. Pestizide sind ein wesentlicher Teil der grünen Revolution, jener Umstellung auf industrielle Landwirtschaft, durch die sich die weltweite Getreideproduktion in den letzten 40 Jahren etwa verdoppelte. In vielen Ländern ist die so gewonnene Versorgungssicherheit bis heute Basis der politischen und gesellschaftlichen Stabilität.

Der Streit entzündet sich deswegen vor allem an der Frage, ob Pestizide die Risiken wert sind – und ob es auch ohne oder zumindest mit weniger Agrarchemikalien geht. Zwei Entwicklungen verleihen dieser Debatte Brisanz: Zum einen tragen Pestizide vermutlich stark dazu bei, dass die Bestände wichtiger Bestäuber wie wilder Bienen und Hummeln drastisch einbrechen, auf deren Dienste viele Kulturpflanzen aber dringend angewiesen sind. Zum anderen schätzen Fachleute, dass sich der weltweite Getreidebedarf bis 2050 noch einmal verdoppeln wird. Der Spielraum für die Lösung des Problems ist klein.

Nichtsdestoweniger gibt es bereits diverse Methoden, die den Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft verringern und in der Praxis teilweise schon erhebliche Bedeutung haben. So hat sich besonders in Gewächshäusern die Integrierte Schädlingsbekämpfung (integrated pest management, IPM) weit verbreitet. Dabei versucht man, Pflanzenschädlingen durch die Wahl der richtigen Bedingungen von vornherein das Leben schwer zu machen, so dass Pestizide gar nicht erst nötig werden. Dazu gehört zum Beispiel, Schädlingen durch geschlossene Gebäude und Quarantänemaßnahmen den Zugang zu verwehren, aber auch biologische Schädlingsbekämpfung durch Nutztierarten oder aber durch Pflanzensorten, die für Fressfeinde weniger anfällig sind.

Geht es auch ohne Pestizide?

Obwohl die Europäische Union die IPM-Prinzipien für alle Betriebe vorschreibt, die Pestizide verwenden, ist das Verfahren derzeit vor allem in geschlossenen Gewächshäusern und Obstplantagen verbreitet. Dort ist auch biologische Schädlingsbekämpfung meist deutlich günstiger als solche mit Pflanzenschutzmitteln. Besonders bei Getreide zeigen Studien dagegen, dass IPM meist aufwändiger und teurer ist als konventionelle Verfahren. Bei Obst steigt durch pestizidarme Methoden Ertrag und Qualität sogar an. Ein bedeutender Grund, weshalb sich diese Methoden auch in solchen Fällen nur langsam verbreiten, ist wohl der Aufwand, sich entsprechende Sachkenntnisse und Verfahren anzueignen.

Moderne Direktsaat-Techniken, bei denen der Acker vor der Aussaat nicht umgepflügt wird und das natürliche Bodengefüge deswegen erhalten bleibt, erfordern sogar mehr Pestizide. Ohne die sonst obligatorische Bodenbearbeitung verringert sich die Erosion, Regenwürmer und anderes Bodenleben sind vielfältiger, und Humus bildet sich schneller. Dafür braucht man jedoch in vielen Fällen Totalherbizide wie Glyphosat, um Feldfrüchte nach der Ernte abzutöten und unerwünschte Wildpflanzen zu kontrollieren.

Weniger oder gar keine synthetischen Pflanzenschutzmittel zu verwenden, hat sich vor allem die biologische Landwirtschaft auf die Fahne geschrieben – hier spielt IPM eine wesentlich größere Rolle als in der konventionellen Landwirtschaft. Man verwendet biologische Schädlingsbekämpfungsmittel wie das Bt-Toxin des Bodenbakteriums Bacillus thuringiensis – der Wirkstoff hat bereits eine lange Geschichte als konventionelles Spritzmittel, ist aber durch seinen Einsatz in gentechnisch verändertem Mais bekannt geworden – oder setzt Fressfeinde der Schädlinge ein. Für diese als Biocontrol bezeichnete Strategie gibt es inzwischen einen großen kommerziellen Markt.

Insgesamt gibt es einen Trend hin zu einer Landwirtschaft, die weniger auf Pflanzenschutzmittel als technische Einzellösung setzt, sondern mehr auf eine Kombination von Maßnahmen, die von Mischkulturen über biologische Schädlingsbekämpfung bis hin zu Hightech-Methoden wie genetisch veränderten Feldfrüchten reicht. Dass diese modernen Ansätze synthetische Pestizide langfristig völlig verzichtbar machen, glauben allerdings nicht einmal Optimisten.

Wie gefährlich sind Pestizide?

Pestizide sind giftig – das ist Sinn der Sache. Im Idealfall tötet der Stoff nur einen ganz bestimmten Schädling, lässt alle anderen in Ruhe und ist dann auch noch rückstandslos biologisch abbaubar. Aber erstens leben wir nicht in einer idealen Welt, und zweitens müsste man mit solchen Pestiziden jeden Fressfeind mit einem eigenen Mittel bekämpfen. Das würde viel mehr Geld und Aufwand kosten und wohl auch mehr Schaden anrichten.

So nimmt man oft in Kauf, dass die meisten Pestizide neben Schädlingen auch einige unbeteiligte oder gar nützliche Organismen töten. Besonders wichtig für uns Menschen sind hier vor allem Honigbienen sowie wilde Bienen und Hummeln. Die Krise durch das so genannte Colony Collapse Disorder in der Bienenindustrie hat den Blick für die Bedeutung dieser Bestäuber geschärft, so dass inzwischen auch Pestizide wegen potenzieller Gefahren für die wichtigen wilden Bienen und Hummeln aus dem Verkehr gezogen wurden.

Wie giftig Pflanzenschutzmittel für den Menschen sind, wechselt von Stoff zu Stoff und ist im Einzelfall sehr umstritten. Einige Stoffe, die so genannten Organophosphate, sind auch für Menschen hochgiftig. In dieser Stoffklasse findet man neben hochwirksamen Pestiziden auch chemische Kampfstoffe. Wer mit ihnen arbeitet, sollte Schutzkleidung tragen. Diese Stoffe haben allerdings den Vorteil, dass sie sich nicht in der Nahrungskette anreichern, und sie gelten in geringen Konzentrationen als weniger gefährlich als zum Beispiel chlorierte Verbindungen wie DDT.

Diese Ambivalenz – Gefahren für Mensch und Umwelt einerseits, der Nutzen effektiver Schädlingskontrolle andererseits – ist charakteristisch für das Unbehagen vieler Menschen angesichts solcher Giftstoffe. Wie schwierig eine solche Abwägung ist, zeigt der aktuelle Fall des Glyphosat: Eine Unterorganisation der WHO hat das Herbizid in ihrer Kategorie 2A eingestuft – es gilt damit als als wahrscheinlich Krebs erregend, wie Matetee, Schichtarbeit und Senfgas. Allerdings gibt die Einstufung nur begrenzt Auskunft über die Größe und Bedeutung des eingesetzten Effekts, wie Fachleute immer wieder bemängeln. Mit anderen Worten: Sie sagt nichts über das tatsächliche Risiko aus.

Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), dessen Aufgabe solche Aussagen sind, berücksichtigt hingegen “neben der gefahrenbezogenen Analyse eines Stoffs auch die geschätzte Exposition, also die tatsächliche Aufnahmemenge des Stoffs, und ermittelt aus diesen Informationen das Risiko, an Krebs zu erkranken”, wie die Organisation schreibt. Auf dieser Basis sei Glyphosat hinsichtlich der beabsichtigten Nutzung nicht Krebs erzeugend. Dem gegenüber steht das Urteil der Internationalen Agentur für Krebsforschung, Glyphosat sei “wahrscheinlich Krebs erregend”. Aber was heißt das?

Ein anderes Beispiel ist das Uralt-Herbizid 2,4-D, das der IARC bereits seit 1987 als möglicherweise Krebs erregend gilt. Der Stoff kann bei Männern, die regelmäßig mit ihm arbeiten, Fruchtbarkeitsprobleme auslösen. Damit ist er eine von diversen Substanzen, bei denen in Studien mit beruflich belasteten Menschen Probleme mit der Fortpflanzung festgestellt wurden – insbesondere bei jenen, die beim Verspritzen der Giftstoffe keine Schutzkleidung tragen. Zugelassen ist die Substanz trotzdem.

Schlussendlich ist gerade bei langfristigen Gesundheitsfolgen von Pflanzenschutzmitteln oft nicht klar, ob der Wirkstoff oder vielmehr ein Zusatzstoff für den Effekt verantwortlich ist; zumal in der Realität ja auch nicht bloß ein Spritzmittel in Frage kommt, sondern eine breit gefächerte Kombination von Einflüssen und Substanzen. Letztlich ist der Streit um das gesundheitliche Risiko durch Pestizide kein wissenschaftlicher, sondern ein politischer. Die Gesellschaft muss sich entscheiden, welches Maß an Risiko und Ungewissheit sie bereit ist für den Nutzen von Pflanzenschutzmitteln in Kauf zu nehmen.

Lars Fischer

Dieser Artikel erschien zuerst in der Spektrum

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